Serie: Tanzmusik aus dem deutschsprachigen Raum (4)
Darf man Melodien aus historischen Tanzmusikquellen überhaupt „traditionelle Musik“ nennen? Das Repertoire des neuen deutschen Tanzmusikrevivals setzt sich zu großen Teilen aus Stücken zusammen, die nur als Notenbild bekannt sind. Es gibt aus den meisten Regionen Deutschlands keine Wachswalzen- oder Bandaufnahmen von in lebendiger Tradition stehenden Musikschaffenden und auch kein direktes Lernen jahrhundertealter Melodien.
Text: Merit Zloch
Wie definiert man eigentlich „traditionelle Musik“? Hier die erste Definition, welche die Netzrecherche lieferte: „Der Begriff ‚Traditionelle Musik‘ kommt aus der Ethnomusikologie … Es [sic!] bezieht sich auf Musik, die von einer kulturellen Gruppe über Generationen hinweg weitergegeben wird, meistens ohne den Einfluss moderner Technologien“ (artist-ritual.de/klassik-traditionelle-musik#begriff2).
Melodien aus Tanzmusikquellen sind traditionelle Musik in ihrer Zeit. Es sind fast nie Komponisten angegeben, und in den meisten Fällen haben die Melodien nicht einmal einen Namen, sondern nur eine Nummer. Die Stücke wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit gehört, gelernt und dann aufgeschrieben, um sie nicht zu vergessen und am Tanzabend immer einen ausreichenden Vorrat an Musik parat zu haben.
Das direkte Lernen im Sinne obiger Definition ist dann irgendwann abgebrochen. Erhalten blieb das Geschriebene. Und nun? Was macht man damit? Kann man diese Musik wieder lebendig machen? Funktioniert die Idee von Revival? Und mit Blick auf die Definition: Ist „Aufschreiben“ eine moderne Technologie? Was genau bedeutet „meistens“?
Regional benachbarten Musikkulturen, für die ein direktes Lernen der Melodien einer – oft fast ausgestorbenen – Musiktradition nach Gehör (auch von Aufnahmen) nachweisbar ist, sprechen wir ja ein Revival zu. Wenn man von der Idee einer europäischen Tanzmusiktradition mit ausgeprägten musikalischen Dialekten ausgeht, wäre ein mögliches Rezept folgendes: Man durchforstet Nachbarregionen nach Musikkulturen, die der Definition von traditioneller Musik entsprechen. Mit einer Mischung dort existierender Stilistiken kann man dann bei der Interpretation der Melodien aus den deutschen Quellen experimentieren. Interessant ist dabei, wie viele historische Bezüge es zwischen einer deutschen Region und einer Nachbarregion mit „durchgehender Tradition“ gibt.
Merit Zloch: „Meine Herkunftsregion Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise war im 17. und 18. Jahrhundert zu großen Teilen unter schwedischer Herrschaft. Meine Geburtsstadt Stralsund war sogar bis 1815 noch schwedisch regiert. Für mich wäre also ein Versuch naheliegend, Melodien aus Manuskripten aus dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommern in heutiger schwedischer Tradition zu interpretieren, aber auch nach Polen zu blicken.“
Spätestens jetzt stößt man auf zwei Dinge, die man gern vergisst: Die meisten heutigen Nationalstaaten gibt es noch gar nicht lange. Und selbst, wo es dies anders ist – beispielsweise in Frankreich –, spielen traditionell verwurzelte Musikschaffende Stücke und Stilistik ihrer jeweiligen Region. Es ist eher selten, dass eine Musikerin aus dem Morvan bretonische Tanzmusik macht. Deshalb ist hier die Rede von „Nachbarregionen“ und nicht „Nachbarländern“.
Und dann war da noch die Sache mit der Asche und dem Feuer. Die schwedische Spielstilistik von heute ist ja nicht identisch mit der schwedischen Spielstilistik aus beispielsweise dem 18. Jahrhundert! Abgesehen davon gab es immer schon Personalstile, wie für Schweden und Frankreich recht gut belegt. Über solche Ideen lohnt es sich nachzudenken, wenn man über ein Revival der Melodien aus deutschen Tanzmusikquellen meditiert.
„Was könnte eine Musik stärker
wiederbeleben, als sie wieder in ihrer
ursprünglichen Funktion zu nutzen?“
Weiterhin kann man den Eindruck erhalten, dass in Regionen mit einer durchgehenden Musiktradition regional verschieden Repertoire aus unterschiedlichen Epochen konserviert und tradiert sowie in den jeweiligen Zeitstilen neu komponiert wurde und wird. So finden sich im traditionellen bretonischen Tanzmusikrepertoire große Ähnlichkeiten zu Renaissancetanzmelodien oder im schwedischen Repertoire viel (Hoch-)Barockstilistik.
In Bayern gibt es eine großartig funktionierende, beneidenswerte Tanzmusik- und Spieltradition in Sachen Blasmusik. Große Teile des Repertoires der Blaskapellen stammt aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hier wurde also – folgt man der oben aufgestellten Theorie – die Stilistik dieser Zeit konserviert und weitergeführt.
Nun existieren in Bayern und Franken mit ihrer „durchgehenden Volksmusiktradition“ auch Tanzmusikquellen aus dem 18. Jahrhundert. In diesen findet sich ein völlig anderes Repertoire. Nicht nur stammt es aus einer anderen Epoche, die Musik ist auch meist für Geige und nie für Blechblasinstrumente notiert. Ein Tanzmusiker aus dem benachbarten Österreich, der aus einer „durchgehenden“ Tanzgeigentradition kommt, kann mit diesen Manuskripten erfahrungsgemäß mehr anfangen als ein traditioneller (Blas-)Musiker aus der Region, aus der die Quellen eigentlich stammen. Macht ein bayerischer Blasmusiker also traditionelle Musik, wenn er aus diesen Quellen seiner Heimat spielt – oder eher ein österreichischer Geiger, der gar nicht aus derselben Region wie die Handschriften stammt?
Eine wichtige Sache steckt bereits in der Wortwahl: „TANZ-Musikquellen“, „TANZ-Geiger“, „TANZ-Musiker“ … Die Funktion der Musik war und ist die, zum Tanzen gespielt zu werden, obwohl sie durchaus auch konzerttauglich ist. In Irland etwa hat sich die Funktion der dortigen Tunes fast vollständig von Tanz- zu Zuhörmusik verändert. Hierzulande sieht das anders aus – sei es bei Bal-Folk-Veranstaltungen, bei Experimenten mit choreografierten Gruppentänzen, historisch informiertem Tanzen und allem dazwischen. Was könnte eine Musik stärker wiederbeleben, als sie teils Jahrhunderte später wieder in ihrer ursprünglichen Funktion zu nutzen? Es spricht sehr für ein funktionierendes Revival, wenn das ohne ständig anwesende Tanzmeister und historische Verkleidung gelingt.
Aufmacher:
Autor*innen-Info:
Merit Zloch spielt, arrangiert und unterrichtet seit 25 Jahren einheimische Musik solo und im Ensemble auf der böhmischen Hakenharfe. Sie organisiert außerdem Musikertreffen und Kurswochenenden. www.meritzloch.net
Matthias Branschke ist Musiker und Instrumentenbauer und spezialisiert auf die musikalische Interpretation von Tanzmusikquellen. Beim Drechseln hat er viel Zeit zum Nachdenken über dieses Thema. dudelsackmanufaktur.de
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